Ute stammt aus Oberbayern. Sie war an einem Krankenhaus als Ärztin in der Gynäkologie tätig. Aktuell arbeitet sie in einer Frauenarztpraxis und bei einer Beratungsstelle für Pränataldiagnostik. Sie meint: „Der G-Punkt ist ein Schmarrn." Wieso spielt das Thema G-Punkt aber immer wieder eine Rolle? „Weil sich anscheinend alle wünschen, Frauen wie Männer, dass es einen Punkt gibt, auf den man drauf drückt, und dann kriegt die Frau einen Orgasmus. Und dann drückt man noch einmal drauf, und sie kriegt noch einen." Das ist ihr zu technisch gedacht. Es gehe an dem vorbei, worum es geht: Zusammen Dinge zu tun, die einem gut tun.
Der deutsche Arzt Ernst Gräfenberg hatte 1950 in einem Artikel über den G-Punkt, auch 'Gräfenberg-Zone', berichtet als einer besonders erogenen Zone, die rund fünf Zentimeter vom Scheideneingang entfernt an der Vorderwand der Scheide liegt. Ute: „Die Fachwelt sagt, es gibt keine entsprechende anatomische Struktur, die regelmäßig nachweisbar ist." Sie findet an Herrn Gräfenberg relevanter, dass er derjenige ist, der die erste Spirale erfunden hat. Bei gynäkologischen Untersuchungen in ihrer Berufspraxis habe Ute den G-Punkt weder durch Sehen noch durch Tasten wahrgenommen. Aber die Verfechter des G-Punktes sagten auch, dass man ihn nur bei sexueller Erregung feststellen und tasten könne, weil er nur dann anschwillt.
„Das Thema G-Punkt ist mehr ein Thema der 80er Jahre, aus der Zeit der Frauenbewegung." Die Frauenbewegung habe gesagt: ‚Es geht nicht nur um seine Befriedigung, sondern auch um ihre.' In diesem Zusammenhang sei die Diskussion um den G-Punkt als intravaginalen Stimulationspunkt aufgekommen. Und entsprechend die Diskussion um den klitoralen und vaginalen Orgasmus. „Den Klitoralen gibt es. Da sind sich alle einig. Da gibt es auch gar keine Diskussion. Dass Frauen auch ohne direkte Stimulation des sichtbaren Teils der Klitoris einen Orgasmus haben können, ist auch unbestritten. Hier ist allerdings das Thema, ob es eine Frage der Übung ist, oder eine Frage der richtigen Stimulation." Die Debatten darüber haben immer wieder den Charakter der Dispute um alle Mythen. Sie halten sich hartnäckig, weil es mindestens genauso schwer ist, das Gegenteil zu beweisen. Der Yeti, der legendäre Schneemensch, geistert ja auch immer wieder in den Köpfen der Menschen herum. Es ist nun einmal unmöglich zu beweisen, dass man ihn nicht gesehen hat. Ute bringt ein anderes bekanntes Beispiel: „Es kann auch schlecht jemand beweisen, dass es das Ungeheuer von Loch Ness nicht gibt. Ich kann mich mit der Idee schon eher anfreunden zu sagen: Es gibt eine Zone, die bei manchen Frauen sehr sensibel ist." Was ja für Nacken und Ohrläppchen genauso gilt. Dazu die Ärztin: „Ich glaube, es ist unwahrscheinlich, eine Frau zu finden, die einen Orgasmus kriegt, weil man sie am Ohr streichelt. Das ist in der Vagina anders."
„Nur weil ich Frauenärztin bin und mich mit den Organen auskenne, bin ich nicht gleich eine Expertin für Sexualität. Trotzdem fragen die Frauen mich." Themen seien unter anderem Schmerzen beim Sex und mangelnde Feuchtigkeit. Ute weist auf ihre medizinische Ausbildung und den entsprechenden Hintergrund hin. Sie sei keine Sexualpädagogin. „Weiß der Teufel, was Herr Gräfenberg damals gefunden hat. Man kann ja gerne den G-Punkt stimulieren. Möglicherweise fühlt sich eine Massage dort für einige Frauen besonders angenehm und erregend an. Wenn Paare aber sowieso mit der Sexualität Probleme haben, ist es sicherlich nicht besonders zielführend, zuerst nach dem G-Punkt zu suchen. Wenn ich eine erfüllte Sexualität habe, und alles ist fein, dann kann ich mich gerne auf die Suche nach dem G-Punkt machen. Vielleicht finde ich ihn. Wenn ich ein Problem habe, würde ich den Frauen und Männern raten, sich zuerst mit der Klitoris zu beschäftigen und nicht mit dem G-Punkt, der vielleicht irgendwo ist oder auch nicht." Die Lustorgane der Frau lägen eher an der vorderen Vaginalwand, also zum Bauch gewandt. „Viel interessanter finde ich die nachgewiesenen anatomischen Strukturen von der Klitoris und Schwellkörpern rund um die Harnröhre." Von der Klitoris sei nur der geringste Teil sichtbar. Sie habe zwei paarig angelegte Schäfte, die seitlich vom Scheideneingang nach hinten Richtung After führen. Zusätzlich liegen zwischen Klitorisschaft und Scheideneingang zwei Schwellkörper, die bei Erregung anschwellen.
Es gibt gewisse Operationen bei Gebärmutter- oder Blasensenkung, bei der die vordere Scheidenwand reduziert wird oder Bänder hineingelegt werden. Ute: „Man weiß gar nicht genau, wie die Nervenbahnen und Nervengeflechte verlaufen. Manche Frauen haben deshalb nach einer Operation große Probleme beim Sex: Die Scheide ist zu kurz oder nicht elastisch genug. Oder es fühlt sich einfach anders an. Manche Frauen empfinden den Sex nach der Operation als besser." Fragwürdige Institute bieten unter anderem an, den G-Punkt mit Hyaluronsäure zu unterspritzen. Diese Säure benutzt man auch zur Unterspritzung von Gesichtsfalten. Ute: „Das Ziel sind beeindruckendere und multiple Orgasmen. Der Eingriff ist eine totale Katastrophe. Das halte ich für Körperverletzung und unwirksam."
"Frauen mit einem starken Beckenbodenmuskel haben eine dreifach größere Chance, zum koitalen Orgasmus zu kommen", behauptete Karl Stifter, ein Wiener Sexualtherapeut in der ‚Zeit'. Er ist Verfasser des ersten Buches über die weibliche Ejakulation. Stifter erforscht seit Jahrzehnten den G-Punkt und meint: „Vielen Frauen fehlt ein vaginales Bewusstsein." Gegen diesen Zwang zum Orgasmus wehrt sich im selben Artikel die Psychotherapeutin und Sexualwissenschaftlerin Ulrike Brandenburg, die Autorin des Buches ‚Frauen, Sex und Liebe‘: „Orgasmus ist zum Kult geworden. Es ist wichtig, ihn wieder ein ganz klein wenig tiefer zu hängen. Dieses bedeutungsschwangere Monster, zu dem er teilweise schon verkommt, hat mit der sexuellen Wirklichkeit von Frauen wenig zu tun." Brandenburg war bis zu ihrem Tod 2010 Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Ute ergänzt: „Der Mythos G-Punkt lebt ja davon, dass Sex umso besser ist, je öfter und schneller Frauen einen Orgasmus kriegen. Da kann man sich fragen, ob das der Sinn von Sexualität ist. Er setzt beide, Frauen und Männer, noch mehr unter Druck, als dass er entspannend wirkt."